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kammermusik unkonventionell 1974

Obwohl H.Johannes Wallmann von der damaligen Weimarer Hochschulleitung als "spätbürgerlich dekadent" und "staatsfeindlich" eingestuft wurde und ihm daher die Fortsetzung seines Kompositionsstudiums versagt war, waren ihm zwei Dozenten dieser Hochschule trotzdem wohlgesonnen - Günter Lampe und Herbert Kirmße. Es gelang ihnen tatsächlich durchzusetzen, dass Johannes Wallmann auf Basis des "Fernstudiums" sein "Diplomkonzert" im Weimarer Saal am Palais durchführen durfte. Dabei gelangten u.a. Wallmanns "Drei Lieder nach Texten von Reiner Kunze" zur Uraufführung. Reiner Kunze war damals einer der namhaftesten opposionellen Schriftsteller in der DDR, was sich der Kenntnis dieser beiden Dozenten offenbar entzogen hatte. 2024 tauchte nun der private Mitschnitt von "Kammermusik unkonventionell" auf, der sicherlich als eines der seltenen Tondokumente dieser Zeit gelten kann und ein völlig ungewöhnliches Neue-Musik-Konzert dokumentiert. Dieser Konzertabend gilt Johannes Wallmann als der konzeptionelle Ursprung der "gruppe neue musik weimar", die er mit Beginn seiner Tätigkeit in der Weimarischen Staatskapelle zu initiieren und zu leiten begann. Es gibt zwei weitere Kompositionen Wallmanns zu Texten von Reiner Kunze. Die umfangreichste ist der Reiner-Kunze-Zyklus "DER BLAUE VOGEL - Musik im Raum für Bariton, Klavier und Streichquartett" - ein abendfüllendes Werk, das 2009 in Kooperation mit Deutschlandfunk im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie zur Uraufführung gelangte.

"Kammermusik unkonventionell" - Kompositionen von Johannes Wallmann; Weimar, Saal am Palais 5.4. 1974. Dazu hier ein Auszug aus Wallmanns Buch "Die Wende ging schief":

"Im Frühjahr 1974 stand das Abschlusskonzert für mein 2. Hauptfach (Komposition) an. Ich titelte es mit „Kammermusik unkonventionell“, was meine abweichende Position umriss. Seitens der Kompositionsabteilung der Hochschule wurden tatsächlich Plakate gedruckt, auf denen dieses Konzert für den 8. April 1974 im Saal am Palais in Weimar angekündigt wurde. Als die Plakate schon hingen, wurde der Termin plötzlich geändert und auf den 5. April vorverlegt. Ich war zunächst wie vor den Kopf geschlagen, stellte dann aber kleine weiße Aufkleber her, ging mit einem Leimtopf durch ganz Weimar, um die „8“ mit der „5“ zu überkleben; in den beiden Hochschulen, am Kasseturm, an allen öffentlichen Plakatwänden. Es funktionierte. Der Saal war am 5.April bei Konzertbeginn so voll, dass vor dem Wittumspalais noch zig junge Leute standen, die zunächst nicht eingelassen wurden. Da die Emporen noch frei waren, bestand ich darauf, dass sie geöffnet würden. Der Pförtner hatte die Anweisung, sie nicht zu öffnen und ließ nicht mit sich reden. Ich sagte, dass das Konzert nicht beginnen würde, wenn nicht alle Hörer eingelassen seien. Dem im Parkett vollbesetzten Saal kündigte ich an, dass der Beginn sich aus diesem Grund leider verzögern würde. So war meine Forderung von über 200 Leuten im Saal mitgedeckt und der leitende Hochschuldozent musste handeln. Etwa 15 Minuten später waren alle Zuhörer eingelassen und das Konzert konnte beginnen. Ich gestaltete es als ein Werkstatt-Konzert; alle Stücke wurden zweimal gespielt und dazwischen erläutert. Aufgeführt wurden „Drei Lieder nach Texten von Reiner Kunze“, mein „1. Streichquartett“, „Clusteriex“ für 4 Holzbläser sowie die „Komposition nach drei Plastiken von Ernst Barlach“. Letztere  besteht aus einer Grundtextur für Flöte und Schlagzeug sowie einer musikalischen Grafik, die vom anwesenden Publikum umzusetzen ist. Ein Stück, mit dem ich (wie auch mit dem zweiten Satz meines 1. Streichquartettes) meine eigenen Grenzen in Richtung John Cage zu erweitern begann. Unerwartet viele der Zuhörer beteiligten sich an dem Spiel. 

Es war eine tolle Atmosphäre und meines Wissens das erste Mal, dass ein Konzert im Saal am Palais 
mit Neuer Musik ohne offiziellen Anlass einen solchen Besucherandrang erfuhr. Vielleicht deshalb, 
weil ein Hauch von Opposition und Alternative wehte." (Buch-Seite 61)

 

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