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Das Religiöse und die Moderne (2007)

© creativ commons (CC BY-NC-ND 3.0) (s.u.)

http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/

 

Das Religiöse und die Moderne

von Heinrich Johannes Wallmann


Auch wenn sich die Kultur- und Religionsgeschichten mit den konkreten Kulturen und Religionen,  ihren Traditionen und theologischen Ansätzen befassen, so doch kaum mit der Frage, was das Religiöse im allgemeinen Sinne überhaupt sei. Obwohl führende Vertreter der Religionen immer  wieder interkonfessionell darüber beraten haben, würde eine zutreffende Beantwortung dieser Frage bedeuten, dass die Religionen ihre eigenen Ideologien relativieren und teilweise sogar aufgeben müssten. So sind von dieser Seite kaum entsprechende Erkenntnisse zu erwarten. Auch angesichts dessen hat mich die Frage so fasziniert, dass ich versucht habe, sie  - im Hinblick auf die Moderne sowie modernes künstlerisches Arbeiten – ideologiefrei (d.h. scheuklappenfrei) zu reflektieren. Dabei bin ich zu Einsichten gelangt, von denen ich nachfolgend berichten möchte.

Wenn es das Religiöse im allgemeinen Sinne überhaupt gibt,

dann ist es zunächst unabhängig von den konkreten Religionen zu denken. Angesichts der vielen – geografisch, klimatisch, historisch bedingten - unterschiedlichen Konkretisierungen des Religiösen in den Religionen bin ich dazu gelangt, im Religiösen einen inneren, auf Gesamtzusammenhang gerichteten Orientierungssinn zu sehen. In seiner unabhängigen, ideologiefreien und abstrakten Form ist dieser Orientierungssinn in jedem Menschen angelegt und bewahrt in ihm ein unbewusstes Sehnen nach dem Ganzen und nach dem ganzheitlich Gebundensein der Teile. Trifft dieser Gedanke zu, realisiert sich im Religiösen ein Wechselspiel zwischen Teil und Ganzem (die Chaostheorie nennt es die Top-down- bzw. Bottom-up-Kausalitäten), wodurch der Mensch seine Identität und seinen Lebenssinn als Teil eines übergeordneten Gesamtzusammenhanges erfahren und ausprägen kann. Dieses Wechselspiel umfasst bewusste Prozesse der Kontemplation sowie der Meditation des Individuellen, Soziellen, Universellen ebenso, wie es tief in das Un- und Unterbewusste (und damit das Emotionale) des Menschen hineinreicht. Da der Mensch sich seit Anbeginn in übergeordneten Zusammenhängen orientieren musste und ihnen seine Existenz abzutrotzen hatte,

kann das Religiöse als ein wichtiger Aspekt des Urtriebes der Erhaltung gelten.

Denn es hat offenbar dafür gesorgt, dass der Mensch sich in seiner bisherigen Evolution einigermaßen erfolgreich zu orientieren vermochte.

Die übergeordneten Zusammenhänge waren zunächst die dynamischen Prozesse der Natur selbst. Später entstanden dann ganze religiöse Denk- und Empfindungssysteme, durch deren Absolutheitsansprüche allerdings die jeweils anderen Religionen/Kulturen nicht selten ins Unrecht gesetzt wurden. In den monotheistischen Religionen wurde der jeweilige Gott als das personifizierte Ganze, als der personifizierte übergeordnete Zusammenhang selbst angesprochen, neben dem kein anderer gelten durfte. Trotz solcher Überhebung (und obwohl den meisten Menschen kaum bewusst sein wird, dass es sich beim Religiösen um einen inneren, auf Gesamtzusammenhang gerichteten Orientierungssinn handelt) hat das Religiöse seine Anziehungskraft nicht verloren. Dies zeigen nicht nur die religiös motivierten Terroranschläge, sondern z.B. auch die Millionen, die anlässlich des Todes von Johannes Paul II. nach Rom pilgerten sowie die Millionen, die alljährlich die Heiligtümer ihrer jeweils eigenen Religionen aufsuchen.

Auch der Mensch der Moderne ist auf das Religiöse angewiesen, jedoch in dem neuen aufgeklärten Sinne

(der es erlaubt, Tradition zu entideologisieren und mit Innovation zu vereinen). Andernfalls fände der Mensch der Moderne keine Orientierung und wäre ein verlorenes Wesen am Rande des Universums. Während sich in der Vergangenheit die religiösen Kultur- und Herrschaftssysteme nur auf bestimmte Regionen bzw. Denk- und Handlungsräume bezogen, betreffen die übergeordneten Zusammenhänge der Moderne das Ökosystem Erde und die Menschheit als Ganzes. Dies auch deshalb, weil der Mensch mittels der modernen Technologien tief in die großen Lebenszusammenhänge eingreift. Durch dieses Eingreifen – gleich, ob es bewusst oder unbewusst vonstatten geht - ist die Menschheit auch selbst zu einem „übergeordneten Zusammenhang“ ("Anthropozän" genannt) geworden und hat sich eine umfassende integrale Verantwortung für den Gesamtzusammenhang des Lebens, des Ökosystems Erde sowie der menschlichen Gesellschaft auferlegt. Durch das Ausmaß dieser Verantwortung

befindet sich die Menschheit in einer evolutiv vollkommen neuen Situation

Denn noch nie in den Jahrmillionen ihrer Evolution konnte sie so tief in den Organismus der Lebenszusammenhänge eingreifen. Und noch nie hatte sie daher eine so umfassende Verantwortung für das Leben und die Zukunft dieses Planeten zu übernehmen, wie das nun angesichts der modernen Technologien notwendig geworden ist. Diese integrale Verantwortung betrifft jeden einzelnen Menschen, unabhängig davon, welcher Kultur, Religion oder Nation er angehört.  Zumal die modernen Technologien von Milliarden Menschen eingesetzt werden und zugleich ihre Eigendynamiken immer zerstörerischer zu entfalten drohen, geht mit der evolutiv vollkommen neuen Situation (durch die sich die Moderne im Prinzip definiert)

eine der schwersten Krisen des Bestehens der Menschheit

einher. Der Ausgang dieser Krisis dürfte entscheidend sein, ob wir eine Zukunft haben oder ob sich unsere Teilnahme an der großen kosmischen Aktivität Leben bald erübrigt haben wird.

Um an dieser Krisis nicht zu scheitern, ist eine moderne und aufgeklärte religiöse Neuorientierung unverzichtbar, 

durch die sich der Mensch als verantwortlicher Mitgestalter der modernen Gesamtzusammenhänge des Lebens zu erkennen und entsprechend verantwortlichzu handeln vermag. Obwohl diese Herausforderung von den Religionen bisher meistenteils ignoriert wird (die Wirkungsmacht ihrer Traditionen und Gewohnheiten bildet entsprechende Barrieren), ist die Annahme dieser Herausforderung von entscheidender Bedeutung. Denn wenn es angesichts der evolutiv neuen Situation nicht gelänge, den auf Gesamtzusammenhang gerichteten inneren Orientierungssinn des Menschen modern und aufgeklärt anzusprechen, hätte dies eine tiefe Desorientierung und angesichts der tief eingreifenden modernen Technologien das Ende der Menschheit zur Folge.

Das Religiöse ist allerdings nur der Orientierungssinn, der zu seiner Sensibilisierung grundlegender Informationszufuhr bedarf. Daher setzt das Religiöse die philosophische Suche nach Erkenntnis und Wahrheit voraus und muss mehr als eine (machtpolitisch leicht ausnutzbare) Repetition von Traditionen und Gewohnheiten sein. Denn der Mensch der Moderne ist nicht nur Teilnehmer, sondern selbstverantwortlicher Mitgestalter des großen - von Naturgesetzen gesteuerten und sich stetig verändernden – kosmischen Selbstorganisationssystems, das Leben heißt. Damit er sich in ihm angemessen zu orientieren und es zukunftstragfähig zu gestalten vermag, kommt es auf die Entwicklung seiner Intelligenz (der Intellekt ist nur einer ihrer Aspekte!) sowie auf den Erwerb von Erkenntnis an.

Entsprechend bedarf das Religiöse des Wechselspiels mit dem Philosophischen: 

Während das Religiöse das unbewusste Sehnen nach dem Ganzen und nach dem ganzheitlich Gebundensein der Teile bewahrt, strebe das Philosophische bewusst nach Erkenntnis und Freiheit zur Erfüllung dieses Sehnens.

Auch dann, wenn das philosophische Streben nach Erkenntnis seine Richtung und seinen weiten Sinn erst durch die Rückbindung an das religiöse Sehnen nach dem Ganzen erhält, bedarf es der Freiheit. Und Freiheit ist, wie Rosa Luxemburg feststellte, immer die Freiheit der Andersdenkenden. Ohne diese Freiheit bleibt das Religiöse auf einem bestimmten Wissensstand in vorgefassten Meinungen gefangen und kommt an die zu einer umfassenden Orientierung notwendigen Informationen nicht heran. Nicht minder fatal ist es, wenn das Philosophische seine Rückbindung an das Religiöse und den Gesamtzusammenhang verliert, denn dann verirrt es sich fast zwangsläufig in den Labyrinthen des Intellekts. Sucht das Religiöse seinerseits nicht den Gegenhalt im Philosophischen, dann erstarrt es zu Ideologien und Dogmen und wird zu einer Barriere, die die Orientierung, die Entwicklung der menschlichen Intelligenz sowie die Akquise von Erkenntnis ebenso blockiert wie die Einlösung der genannten integralen Verantwortung. Das Philosophische ist also ebenso unabdingbar auf das Religiöse angewiesen wie das Religiöse auf das Philosophische. Sie bilden die zentrale Polarität dessen, was als der integrale Wesenskern des Menschen bezeichnet werden kann. Dieser integrale Wesenskern erlaubt dem Menschen die Teilhabe an dem, was als höchste Intelligenz zu bezeichnen ist, und ermöglicht ihm damit die Meisterung seiner – mit der Moderne einhergehenden -  evolutiv neuen Situation.

In der Kulturgeschichte der Menschheit entwickelten sich die unterschiedlichsten Methoden und Modelle, den – wohl mehr gefühlten als gewussten - integralen Wesenskern des Menschen konkret zu leben. Diese Modelle konnten zunächst nicht lebensfern sein, wie es später die dogmatisierten Ideologien der Religionen waren, sondern sie waren sehr konkret und standen in hocheffektiver Rückkopplung zum konkreten Überlebenskampf. Indem sich unsere Urvorfahren mittels ihrer religiösen Riten und kulturellen Praktiken in Beziehung setzten zu den Gestirnen, zu den Rhythmen und Kräften der Natur und diese in Kultgegenständen, in ihrem Jagdwerkzeug, in den Gegenständen des täglichen Gebrauchs mit Hilfe künstlerischen Gestaltens für die ästhetische Wahrnehmung nachvollziehbar und der philosophischen Reflektion zugänglich machten, konnten sie die für ihre jeweiligen Lebenssituationen notwendigen individuellen-soziellen-universellen Zusammenhänge bilden und durch die damit verbundene Orientierung ihren Überlebenskampf besser bestehen. Wenn es stimmt, was der Musikethnologe Hans Oesch feststellte: „Solche Völker haben überhaupt keine Abstrakta in ihrem Denken, die Sprache ist außerordentlich konkret; es wird alles nur konkret gesagt“, dann ist auch klar, weshalb z.B. der Lauf der Gestirne mit den jahreszeitlichen Erfahrungen und mit den Erfahrungen der die Menschen umgegebenden Tierwelt verglichen und konkret verkoppelt wurde. So war z.B. die (Er)Findung des Tierkreises eine konkrete Verknüpfungsleistung des Biosystems mit kosmischen Größen, die weit über die bloße Erkennung der Sonnenstände und Mondzyklen hinausging. Und war der Sternenhimmel zunächst mittels der Eigenschaften von Tieren definiert, kamen in späteren Kulturen menschliche Eigenschaften und Figuren hinzu, die zu Göttern und Idealvorstellungen mutierten. Noch später kam es zum Monotheismus und mit Jesus sogar zur Ineinssetzung von Gott und Mensch (Vater, Sohn, Mutter – eigentlich gehört auch die Tochter dazu). Die Versternung und die Projektion von idealen menschlichen Eigenschaften in den Kosmos stellte nicht nur eine Einheit von Mensch und Kosmos her, sondern war zugleich eine Voraussetzung, um diese Eigenschaften durch Anrufung evozieren zu können. Dies wiederum führte unter bestimmten Voraussetzungen zur Erlangung von Vorteilen und Macht. Der Krieg der Menschen untereinander wurde damit - wie z.B. Homer über den Trojanischen Krieg berichtet - zum Kampf von Idealvorstellungen und zwischen Göttern. Er ging damit weit über den puren Wunsch hinaus, z.B. dem Menelaos die Helena zurückzuholen.

Da religiöse Ideologie-Systeme jedoch oft genug dazu herhalten mussten, Machtinteressen zu realisieren und zu verschleiern, entstand

durch den machtpolitischen Missbrauch des Religiösen immer wieder ein eminenter gesellschaftlicher Religiositätsverlust, 
der für neue (und ggf. totalitäre) Ideologien geradezu ideale Angriffsflächen bot.  

Diese Angriffsflächen waren umso größer, je weniger die jeweilige Religion das philosophische Streben nach Erkenntnis und Freiheit zu ihrer eigenen Sache gemacht hatte.

Hitler hatte offenbar den Nerv eines solchen (durch den 1. Weltkrieg) massiv erlittenen Religiositätsverlustes getroffen. Denn angesichts des Grauens der im 1. Weltkrieg eingesetzten modernen Massenvernichtungstechnologien dämmerte nach dem Ende dieses Krieges damals großen Volksmassen, dass das traditionelle religiöse Ideologie-System des Christentums nicht stimmen konnte. Wie raffiniert Hitler mit seiner nationalsozialistischen Ideologie diese Situation ausnutzte, davon berichtet Victor Klemperer sehr eindrucksvoll in seinem Buch LTI (Die Sprache des Dritten Reiches): „Gewiss, die `Großdeutsche Weihnacht 1938´ wird von der Presse gänzlich dechristianisiert: Es ist durchweg das `Fest der deutschen Seele´, das man feiert, die `Auferstehung des Großdeutschen Reiches´ und damit die Neugeburt des Lichtes, womit denn die Betrachtung dem Sonnenrad und Hakenkreuz zustrebt, während der Jude Jesus ganz aus dem Spiel bleibt. ... Goebbels berichtet in seinen Tagebuchblättern `Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei´ unter 10. Februar 1932 von einer Rede des Führers im Sportpalast: `Zum Schluss gerät er in ein wunderbares unwahrscheinliches rednerisches Pathos hinein und schließt mit dem Wort: Amen!, das wirkt so natürlich, dass die Menschen alle auf das tiefste erschüttert und ergriffen sind ... die Massen im Sportpalast geraten in einen sinnlosen Taumel ...´ ... Liest man die Rezepte der Massensuggestion, die Hitler selbst im `Kampf´ mitteilt, so wird man erst recht keinen Zweifel hegen an der bewussten Verführung, die im Ziehen der frommen kirchenüblichen Register liegt. Immerhin: ein gläubiger Fanatiker, ein Wahnsinniger, entwickelt oft im Dienst seines Wahns die größte Schlauheit, und erfahrungsgemäß gehen die großen  dauernden Suggestionen nur von solchen Betrügern aus, die sich selber betrügen.“ In den Untersuchungen von Joachim Köhler zu Hitlers Verhältnis zu Richard Wagner wird darüberhinaus deutlich, dass Hitlers „Religiosität“ von Wagners Heldenepen geprägt war, ja dass in diesen ein wesentlicher Teil von Hitlers Wahn begründet gelegen haben dürfte. Gegenüber dem Journalisten Frederick Oechsner soll Hitler geäußert haben: „Für mich ist Wagner etwas Göttliches. Seine Musik ist meine Religion. Ich gehe in seine Aufführungen, wie andere in die Kirche gehen.“ Hitler hatte Wagners Musik und Sujet offenbar derart verinnerlicht, dass er sich selbst wie der Volksheld „Rienzi“ (dem das Volk mit „Heil, Rienzi!“ huldigte) verstand und selbstinszenierte.

Ist ein religiöses Orientierungssystem für große Volksmassen nicht mehr akzeptabel, bedarf es dringend eines neuen. 

Weil Religiositätsverlust Orientierungslosigkeit und damit eine enorme Schwächung bedeutet, werden Menschen nach einem Religiositätsverlust offenbar religiositätssüchtig. Deshalb können - wie auch der Fall Hitler zeigt - große Volksmassen von einem religiös verbrämten Rausch oder Betrug offenbar mehr in Bann geschlagen werden als von der rationalen Nüchternheit einer Wahrheit. Allerdings konnte Hitler den durch Religiositätsverlust freigewordenen Platz des Religiösen nur deswegen so schrecklich erfolgreich besetzen, weil die Religionen trotz der Katastrophe des 1. Weltkrieges in ihren eigenen Ideologisierungen verfangen blieben und – sich hinter ihren Traditionen und Gewohnheiten verbarrikadierend - zu keiner religiösen-philosophischen Innovation in der Lage waren. Noch schlimmer: Sie setzen mit ihrem national-religiösen Konservatismus den Ideen der Moderne (z.B. dem durch das Weimarer Bauhaus nach dem 1. Weltkrieg beherzt in Angriff genommenen Versuch einer kulturellen Erneuerung) erbitterten Widerstand entgegen, ohne aber auf die Technologien der Moderne verzichten zu wollen. 

So lag in Deutschland das Religiöse - als ein weitestgehend neu zu bestellendes Feld - Hitler vor Füßen. 

Der falsch besetzte Raum des Religiösen konnte dadurch von ihm innerhalb kürzester Zeit neu falsch besetzt werden. Dabei konnte er sich auf national-religiöse Kreise ebenso wie auf den gesamten deutschen Kulturkonservatismus oder die romantisch-archaischen Opernwelten Richard Wagners stützen, zugleich aber die technologischen und logistischen Möglichkeiten der Moderne für sein verbrecherisches Werk in Anspruch nehmen.

Als Nachkommen der Generationen, die auf Hitler reingefallen waren, stehen wir noch immer erstaunt, wie das, was im Nazideutschland geschah, überhaupt möglich war. Auch wenn mit Daniel Goldhagen neu ins Bewusstsein gerufen wurde, dass der Antisemitismus spätestens seit Luther – und damit lange vor der Machtergreifung Hitlers - Bestandteil deutsch-nationalen Kulturverständnisses war, auch wenn Götz Alys These von Hitlers Sozialbestechung der Deutschen als zutreffend gelten kann, so dürfte doch dieses Versagen der Religionen nach dem 1. Weltkrieg sowie das Fehlen einer aufgeklärten und ideologiefrei lebbaren integral-modernen Religiosität die entscheidende Lücke für die massensuggestiv erfolgreiche Platzierung von Hitlers national-religiöser Großmacht-Ideologie gewesen sein.

Eine „Kulturnation“ wurde unter Ausnutzung ihres Religiositätsverlustes sowie der damit einhergehenden 
Entkopplung aller ethischen Normen, zu einer Brutalnation ohnegleichen.

Wie anders hätte Hitler Millionen Deutsche in diesen fanatischen religiös-nationalsozialistischen Taumel versetzen können?                                                                                 

Scharf hingesehen, lässt sich heute daraus schlussfolgern, dass das Versäumnis religiöser Innovation seitens der Volkskirchen quasi selbst ein Verbrechen darstellt, das die 55 bis 60 Millionen Tote des 2. Weltkriegs, den Holocaust und ein weitgehend zerstörtes Europa nicht unmaßgeblich mitverschuldet hat. 

Der Schoß ist fruchtbar noch (zumal auch der Realsozialismus mit seinen beihnahe 100 Millionen Toten zu Friedenszeiten eine ebenso schwere Hypothek bildet). 

An eine Entideologisierung der Religionen, mittels der Moderne und Religiosität versöhnt werden, ist seitens der Kirchen - obwohl von Theologen wie Dietrich Bonnhoeffer, Dorothee Sölle, Paul Tillich, Rudolf Bultmann oder dem Philosophen Karl Jaspers schon vor Jahrzehnten umfangreich durchdacht und klug formuliert - offenbar noch immer nicht zu denken. Angesichts des Wiederaufbaus nach dem 2. Weltkrieg (aber auch nach der Wende) und des sich anschließenden zivilisatorischen Wohlstandes blieb auch im säkularen Bereich die Notwendigkeit kultureller Innovation weitgehend verdrängt.

So besteht die militärisch hochgefährliche Schizophrenie zwischen Kulturkonservatismus und modernen Technologien nach wie vor. 

Der 2. Weltkrieg und der Holocaust, der Nationalsozialismus und der Realsozialismus sollten allerdings Schrecken genug sein, dieses Problem nicht länger zu ignorieren oder klein zu reden. Erst recht im Hinblick auf den symbolhaften 11. September sowie auf gegenwärtige Kriege und Atommachtansprüche ist es höchste Zeit, dass die westliche Welt erkennt, welche gefährlichen Situationen durch die Verhinderung kultureller Innovationen angesichts moderner Technologien entstanden sind. Denn Kultur konfiguriert die Gemüter. Wenn aber schon die westliche Welt - die an Aufklärung und Moderne sowie einer entsprechend aufgeklärten Theologie direkt anknüpfen könnte - die philosophische Entideologisierung des Religiösen und eine entsprechende kulturelle Innovation unterlässt, wie sollten wir dies dann von der islamischen Welt erwarten können, die diesen Hintergrund nicht hat? Erst dann, wenn den christlichen Religionen und der westlichen Gesellschaft die Entideologisierung des Religiösen sowie eine tieflotende kulturelle Innovation gelingt, haben wir aus den beiden Weltkriegen und dem Holocaust sowie dem Nationalsozialismus und Realsozialismus wirklich gelernt. Und auch erst dann wird die westliche Demokratie zu einem weit leuchtenden Beispiel sinnvoller, aufgeklärter und zukunftstragfähig moderner Lebensorientierung werden können. Kritisch reflektierte kulturelle und religiöse Traditionen werden dafür ein fruchtbarer Humus sein.

Eine solche kulturelle Innovation wäre - neben einem entsprechenden weltweiten Öko- und Sozialmanagement – die entscheidende Voraussetzung, um dem global agierenden islamistischen Terrorismus wirksam den Boden zu entziehen. Nur so bestünde vermutlich auch die Chance, künftig massenhafte Ermordungen Andersdenkender oder Andersgeborener zu verhindern. Vielleicht wird sich die Menschheit dann am Beginn eines neuen großen Zeitalters, das ich INTEGRALE MODERNE nenne, wiederfinden.

Um die entsprechende kulturelle Innovation zu erreichen, sind die Medien von entscheidender Bedeutung, 

denn sie führen durch den Informationsdschungel. Neben dem Politischen, Philosophischen und Wissenschaftlichen werden zudem ästhetische Informationsübertragungen und die avancierten (d.h. modern und aufgeklärt entwickelten) Künste sowie Ästh-Ethik (als die Frage, mit welchen Informationen wir unser Gehirn versorgen) eine bedeutende Rolle spielen.

Da (auch die avancierten) Künste ihre Informationen emotional übertragen und die Wahrnehmung ästhetisch trainieren können, da sie philosophische Reflektion sowie den Bund zwischen Individuellem-Soziellem-Universellem ästhetisch vergegenwärtigen können, da sie in der Lage wären, ein neues Empfinden von Gesamtzusammenhang zu ermöglichen, sollten ihnen die Kulturstrukturen der Demokratie, die Medien und die Religionen ihre Türen weit öffnen. Zugleich werden die avancierten Künste auf alles verzichten müssen, was Selbstbetrug und Rausch fördert. Wenn der Theologe Dietrich Bonhoeffer einst von einer neuen „Sprache Gottes“ sprach, die „vielleicht ganz unreligiös, aber befreiend und erlösend“ sein wird, so gingen seine Überlegungen (wenn sie auch von einem traditionellen Gottesbegriff geprägt waren) in eine ähnliche Richtung.

Auf die Befreiung von den Scheuklappen der Ideologien zielt letztlich auch James Joyce´s Gedanke, nach dem Laut und Form und Farbe die Gefängnistore der Seele sind. Denn aus ihm ergibt sich die interessante Frage, ob Laut und Form und Farbe (also ästhetische Informationsübertragung) als Tore benutzt werden, um in das Gefängnis der Ideologien hinein oder aus ihm heraus zu kommen. Wie die Bilderkriege zeigen, war der Kampf um diese Tore stets aktuell und wurde hart geführt. Denn wer diese Tore in seine Gewalt brachte, vermochte - zumindest vorübergehend - die menschlichen Seelen und damit den menschlichen Geist in seine Gewalt zu bringen und zu domestizieren. Und nichts war für Machterhaltung und Machterweiterung wichtiger. Auch das sollten uns Nationalsozialismus und Realsozialismus gelehrt haben.

Der gegenwärtige Bilderkrieg verläuft allerdings völlig anders als alle vorhergehenden. Er wird mittels einer unglaublichen Bilderflut und einer Hyperinflation der Formen, Farben, Klänge geführt und ist zu einem alles übertönenden akustischen und optischen Psycho-Lärm angeschwollen. Er erstickt die Wahrnehmung und es scheint, als solle er den Menschen von allem fernhalten, was seinen integralen Wesenskern berühren und seiner Seele Raum geben könnte, das Ganze zu durchschweifen. Angesichts dessen ist es kein Wunder, wenn wieder ein größerer Hang zu den Religionen festzustellen ist und dabei ihre Ideologisierungen unkritisch hingenommen werden. Zugleich aber ist festzuhalten, dass die Bewältigung der evolutiv neuen Situation auf dieser Grundlage nicht zu bewerkstelligen ist. Deshalb besteht dringender Handlungsbedarf. Denn 

obwohl sie genutzt werden könnten, Wahrheit und Klarheit zu erlangen und den menschlichen Geist frei zu entwickeln,

fungieren Religion, Kultur und Kunst auf dem Schlachtfeld um den menschlichen Geist noch oftmals als Opium für das Volk und eine Art Schmierseife. Das aber kann sich die Menschheit im Hinblick auf ihre integrale Verantwortung und die evolutiv neue Situation nicht länger leisten.

Allein schon hinsichtlich der Klimaproblematik stellt sich (wie die bekannte Umweltökonomin Claudia Kemfert formuliert) die Frage: „Wieviel Einfluss hat der christliche Glaube auf die Klimakatastrophe?“ Nach den bisherigen Katastrophen der Moderne (sowie den nationalsozialistischen und realsozialistischen Staatssysteme, die das Religiöse missachteten, Erkenntnis und Freiheit ideologisch unterbanden und Millionen, die von ihrer Ideologie abwichen, umbrachten oder anderweitig ausschalteten) stehen wir Menschen der westlichen Welt gegenwärtig an einem historischen Punkt. Erstmal in unserer Geschichte könnten wir als demokratischer Machtsouverän kulturelle Strukturen hervorbringen, die den menschlichen Geist nicht domestizieren, sondern ihn von allen ideologischen Scheuklappen befreien und ihn zugleich in den großen individuellen-soziellen-universellen Zusammenhang einbinden. Denn das wichtigste Ziel der demokratischen Gesellschaft ist darin zu sehen, die menschliche Intelligenz so zu entwickeln, dass sie ideologiefreie Erkenntnis und umfassende Orientierung erreicht, um die evolutiv neue Situation zu bewältigen. Innovationsoffene kulturelle Strukturen sind dafür unverzichtbar. Auf dem Humus entideologisierter kultureller und religiöser Traditionen sollten sie

uns auch emotional in die Lage versetzen, die großen vor der Menschheit stehenden Probleme zu erkennen, die 
Versöhnung von Religiosität und Moderne zu erreichen und unsere integrale Verantwortung einzulösen.
Wer, wenn nicht die demokratisch verfassten und christlich tradierten Gesellschaften (Jesus kann als ein pazifistischer
Widerstandskämpfer gesehen werden!) sollten willens und in der Lage sein, dafür beispielgebend voran zu gehen?

(2007, neu durchgesehen 2011)

weitere Informationen:

 

NEUE FAUSTUS-MEPHISTO-DISPUTE (NDR-Produktion 2007)

glockenrequiem.de

integrale-moderne.de

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EUROPA? KULTUR-REFORMATION! anti-totalitär & integral-modern (bitte anklicken) - Aufruf und Frage in 26 Reflexionspunkten von H.Johannes Wallmann 

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s.a. Deschner, Karlheinz: Kriminalgeschichte des Christentums. 10 Bände. Rowohlt 1986ff.

 

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