Offener Brief SED-Diktatur versus Künste, 2013
--- KUNSTAKTION INTEGRAL-ART 2013 (1) --- zum Symposium „Autonomie und Lenkung. Die Künste im doppelten Deutschland“, Leipzig 4.-6. April 2013,
H. Johannes Wallmann - April 2013
Kunst als Tochter der Freiheit - Offener Brief zum Symposium: „Autonomie und Lenkung. Die Künste im doppelten Deutschland“, Leipzig 4.-6. April 2013, veranstaltet von der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig (Kommission Kunstgeschichte, Literatur- und Musikwissenschaft), der Sächsischen Akademie der Künste Dresden und dem Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig Veranstaltungsort: Zeitgeschichtliches Forum Leipzig
„denn die Kunst ist eine Tochter der Freiheit“ (Friedrich Schiller) „Kunst und Wissenschaft ... sind frei.“ (Art. 5/Abs. 3 des Grundgesetzes)
Sehr geehrte Teilnehmer des Symposiums, sehr geehrte Damen und Herren,
zwar wurde im Laufe der vergangenen Wochen die Präambel zum Thema dieses Symposiums stark verändert ... und sogar in letzter Minute noch ein weiterer Dirigent eingeladen, doch kann ich - als der wohl einzige lebende Komponist Neuer Musik, der einen kulturpolitisch begründeten DDR-Ausreiseantrag stellte (s.Anm. 4) - trotzdem nicht umhin, meinen Einspruch gegen dieses Symposium zu formulieren. Vor allem, weil - um der Entwicklung unserer Kultur willen - auf gewisse Hintergründe aufmerksam gemacht werden muss, vor deren Karren dieses Symposium offenbar gespannt werden sollte.
Ist es Zufall, dass das Symposium ausgerechnet vom ehem. Leiter des musikwissenschaftlichen Institutes jener Musikhochschule (Weimar) mitkonzipiert wurde, die sich – wie konkret in meinem Fall (meine aus politischen Gründen erfolgte Relegierung vom Kompositionsstudium, der 1974 an mir begangene Diplombetrug) - seit Jahrzehnten um eine echte Aufarbeitung ihrer Verstrickung in die SED-Diktatur drückt?
„Wann wird Kunst politisch?“ - so beginnt die Präambel dieses Symposiums; nur Rhetorik?
Prof. Michael Berg müsste es eigentlich wissen. Oder bemerkte er nicht, dass ich bereits 1972/73 „Drei Lieder nach Texten von Reiner Kunze“ schrieb, aus politischen Gründen von der Weimarer Hochschule relegiert wurde, mit dem Bildenden Künstler Kurt W. Streubel, der als “Formalist” verfemt war und sein Werk mit den Worten “abstrakt-konstruktiv-konkret” umriss - befreundet war, von 1975-85 die „gruppe neue musik weimar“ (die dort erstmals Werke z.B. von Stockhausen oder Isang Yun zur Aufführung brachte) initiiert und geleitet hatte, mit meinem Schaffen (z.B. der internationalen Bauhütte Klangzeit Wuppertal, dem Buch „INTEGRALE MODERNE – Vision und Philosophie der Zukunft“, Pfau-Verlag 2006) am Weimarer Bauhaus der Moderne anknüpfte? Wieso war dies Michael Berg kaum eine Erwähnung wert? Die von ihm mitherausgegebene Buch-Reihe nennt sich pikanterweise „KlangZeiten“. Zufall?
Prof. Klaus Mehner, zu DDR-Zeiten in der Chefdramaturgie des Berliner Schauspielhauses (in "Uschis Spieldose") - des heutigen Konzerthauses tätig, müsste es ebenfalls wissen. In meinem Buch DIE WENDE GING SCHIEF (Kulturverlag Kadmos 2009, S. 152) habe ich einen bezeichnenden Vorgang beschrieben, mit dem er auf´s Engste verbunden ist. Er war damals einer der Vollstrecker von "Uschi" - Ursula Ragwitz, der Kulturdiktatorin des ZK der SED. Eine seiner ehem. Studentinnen hatte in ihrer Dissertation herausgearbeitet, dass es der SED-Diktatur mit den Künsten um »Ideologieproduktion« sowie um »die Führung des Kampfes gegen feindliche Ideologien« ging. War es Zufall, dass Sie den Doktorvater wechseln musste?
Auch Prof. Frank Schneider müsste es wissen. Zu DDR-Zeiten vielreisender Westreisekader (s.a. Anm. 2.), schrieb er trotz meines kulturpolitisch begründeten DDR-Ausreiseantrages (1986) noch 1990 in MusikTexte 33/34 über mich: „Es mag sich eine schöpferische Krise mit geistigem Umdenken, mit kritizistischem Unmut damit verbunden haben, die zum Abbruch von Kontakten mit seiner Umwelt und schließlich 1988 zur Übersiedlung in die Bundesrepublik führten.“ - Ist ein kulturpolitisch begründeter DDR-Ausreiseantrag „kritizistischer Unmut“? “Abbruch von Kontakten mit seiner Umwelt” - dieser Vorwurf mir anstatt der Stasi? Wusste Frank Schneider nicht, in welchem Ausmaß die Stasi Kontakte ab- und unterbrach, z.B. mittels Stigmatisierung, Zersetzung (s.a. Anm. 3.), Nichtzustellung der Post? Was unternahm Frank Schneider in seinen enorm gestei-gerten Einflusssphären nach der Wende, um Künstlern, die in der DDR unter hohem persönlichen Einsatz für Kunst als Tochter der Freiheit einstanden, angemessen Gehör zu verschaffen? Oder sorgte er stattdessen in seinen Einflusssphären - wie auch ein Udo Zimmermann oder Armin Köhler - für eine weitestgehende Eliminierung meiner Geisteshaltung und Musik? - Zufall?
Sehr geehrter Herr Prof. Altenburg, nachdem die Thüringer Allgemeine am 15.11. 2012 (Anlage) nach der TLZ vom 28.6. 2012 über mich und den o.g. Diplom-Betrug 1974 an mir veröffentlicht hatte, wurde innerhalb von 14 Tagen in der Weimarer HfM eine Podiumsdiskussion angesetzt, zu der auch ich eingeladen war. Da ich befürchtete, dass diese Veranstaltung lediglich dazu dienen sollte, das Problem schnell abzubügeln, sagte ich – auch auf Anraten von Hildigund Neubert und Lutz Rathenow, den Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen Thüringens und Sachsens - meine Teilnahme ab. Zugleich regte ich ein sorgsam vorbereitetes Symposium zu dieser Themenstellung an. Wie berechtigt diese Befürchtung/Absage war, zeigt nun die “sorgsame” Themenstellung und Vorbereitung Ihres Symposiums. Diese erscheint fast so, als würde man das NS-System mit Frankreich oder Großbritannien der gleichen Zeit vergleichen. Man müsste meinen, auf eine solche Idee würde niemand kommen. Wer kam dennoch warum darauf? “Verschleierungspotential”?
Offenbar unterliegt die Musikwissenschaft - sowohl in Bezug auf den Nationalsozialismus als auch auf den Realsozialismus - insgesamt einem "kapitalen Systemdefekt“ (U. Blomann), der aus persönlichen Verstricktheiten und entsprechenden Interessenlagen resultiert.
Auch angesichts dessen sowie des Vorgehens gegen oppositionelle Künstler damals in der DDR und heute in China, Russland, im Iran sollte jedoch deutlich sein, dass die Freiheit der Kunst ein wesentlicher Indikator und Gestaltungsfaktor antitotalitärer gesellschaftlicher Entwicklungen ist. Denn in dem Maße wie sich die moderne Gesellschaft dem freiheitlich-widerständig-kreativen Geist der Künste verschließt, öffnet sie Willfährigkeiten, Demokratie-Defiziten, Geistlosigkeiten sowie alten Gewohnheiten Tür und Tor. Der Umgang mit Künstlern, die unter schwierigen Bedingungen für die Freiheit der Kunst einstehen, kann daher als Lakmustest gelten. Diesen haben die o.g. Professoren m.E. nicht bestanden. Oder wäre Kunst/Musik vor allem als willfährige „Hure“ zu betrachten? Sie würde damit ihrer geistigen Kraft und Schönheit beraubt, mit fatalen Folgen für Kultur und Gesellschaft - „weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert“ (Schiller).
Eine ehem. DDR-Musikwissenschaftlerin schrieb mir kürzlich: „was soll denn dieser Schillersche Freiheitsbegriff? Gerade in dieser "neuen" Zeit erleben wir alle - Du auch, Johannes -, dass es den für Kunst nicht gibt, sondern nur verschiedenste Formen von Abhängigkeiten.“ - Hat sie Recht? Darf eine moderne demokratische Gesellschaft - zumal die deutsche, die zwei totalitäre Staaten hinter sich hat - es zulassen, dass die im Grundgesetz Art. 5/Abs. 3 garantierte Freiheit von Kunst und Wissenschaft nur eine Farce ist? Darf sie es zulassen, dass es vor allem Abhängigkeiten sind, die das Spiel dominieren? Was passiert dann mit dieser Kultur, mit dieser Demokratie, wird der kapitale Systemdefekt auf sie übergreifen?
Berlin, am 3./4.April 2013 (+14.6. - leicht korrigierte 2. Fassung) - H. Johannes WallmannAnmerkungen.
1) Es sei erinnert, dass die DDR Teil des totalitären Staatssystems Realsozialismus war, das (so Genozidforscher) ca. 70 Mio Tote durch Mao zu Friedenszeiten, 29-46 Mio Tote in den sowjetischen GULAGs, 1-2 Mio bestialisch Erschlagene in Kambodscha, Hunderttausende in den bestialischen nordkoreanischen KZs (s.a. Film "Camp 14"), ungezählte – mittels Zersetzung – gebrochene Biografien durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR zu verantworten hat. Am westlichsten Außenrand dieses totalitären Herrschaftssystems gelegen (und dessen westlichstes Schaufenster) ging das MfS in der nachstalinistischen DDR nicht so offen brutal wie in anderen realsozialistischen Ländern vor, sondern bediente sich gegenüber Andersdenkenden höchst konspirativer Methoden, die in hochperfiden OVs von Zersetzung (psychische, soziale, kulturelle Ausgrenzung/Vernichtung) bis hin zu Gift, Verstrahlung und langjährigen Zuchthausstrafen reichten.
2) Das DDR-Ministerium für Staatssicherheit (MfS) hatte eine Desinformations-Abteilung. Diese „sollte weniger Informationen beschaffen, als vielmehr durch IM, Kontaktpersonen und so genannte aktive Maßnahmen das politische Klima in der Bundesrepublik zugunsten der SED beeinflussen.“ Zum IM-Netz der Abteilung „gehörten nicht nur Bundesbürger, sondern auch zahlreiche Ostdeutsche, die als Instrukteure in den Westen reisten, Manuskripte verfassten oder mit der Betreuung westlicher Journalisten befasst waren“ (Hubertus Knabe in Der diskrete Charme der DDR, Ullstein 2003, S. 168/69). Das Wirken dieser Abteilung und die von ihr mit viel Aufwand und Finesse betriebene Schönfärberei der SED-Diktatur war offenbar sehr erfolgreich und führte - bis hin zum SPD-SED-Papier (1987) - dazu, dass viele insbesonders „links-dominierte“ bundesrepublikanische Kreise und Institu-tionen es bis zum Mauerfall tunlichst vermieden, die DDR als totalitären Unrechtsstaat einzustufen. Heute wird offenbar versucht, an diesen alten Mentalitäten wieder anzuknüpfen.
3) Das MfS agierte mit hohen „Verschleierungspotentialen“ und entsprechenden Methoden. In seiner Richtlinie Nr. 1/76 heißt es z.B.: „systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener, wahrer, überprüfbarer und diskreditierender Angaben sowie unwahrer, glaubhafter, nicht widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben ... systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Mißerfolge, gezielte Verbreitung von Gerüchten, gezielte Indiskretionen ...“, „unter strengster Wahrung der Konspiration“. (Zitat aus der MfS-Richtlinie 1/76 bzw. aus MfS-Unterlagen, die Jürgen Fuchs zitiert in Magdalena, rororo 1999, z.B. S. 166, 185). Macht man sich die mittels "Operativer Kombinationen" genau kalkulierte Mischung von Zersetzungsmaßnahmen bewußt, wird die verbrecherische Dimension deutlich. Orwell „1984“ life.