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DDR-Ausreiseantrag

Als einer von relativ wenigen Komponisten gehörte ich zur großen Gruppe der DDR-Ausreisebürgerrechtler. Mit Name und Anschrift leisteten wir mit unseren Ausreise-Anträgen anti-totalitären Widerstand gegen die SED-Diktatur und schufen damit eine der wesentlichen Voraussetzungen für die 89er Fluchtwelle, den Mauerfall, die Deutsche Einheit.  Obwohl wir den offiziellen DDR-Bürgerrechtlern bestenfalls als Oppositionelle zweiter Klasse gelten, waren wir die mit Abstand größte DDR-Oppositionsgruppe und weder "Schlaraffenland-Träumer" noch "Totalverweigerer". Vor den Ausreise-Anträgen hatten viele von uns hoch engagiert zu einer liberaleren Gestaltung der DDR beizutragen versucht, wofür wir von der SED-Diktatur massiv abgestraft wurden. Tausende von uns saßen deshalb in DDR-Gefängnissen, Unzählige wurden von der Stasi systematisch zersetzt und in ihren Biografien gebrochen, viele möglicherweise sogar vergiftet01. Doch durch die Entschiedenheit unserer Ausreise-Anträge und unserer "Abstimmung mit den Füßen" brachten wir Bewegung in die totalitär versteinerten DDR-Verhältnisse. Daher waren wir der SED in unserer Masse quasi Staatsfeind Nr. 1. Jedoch fand diese unsere politische Leistung in den vergangenen 30 Jahre kaum Anerkennung. Anerkannt, gehypt, in Positionen gebracht, geehrt wurden stattdessen zahlreiche Kollaborateure der SED-Diktatur (1) und Sympathisanten des Realsozialismus. Was mich selbst betrifft, so hatte ich trotzdem gewissermaßen Glück, lebe und konnte auch angesichts extrem schwieriger Umstände ein großes künstlerisches Lebenswerk schaffen02. Zugleich sehe ich mich durch meine Biografie03 quasi naturgemäß in der Verantwortung, die Verbrechen und Machenschaften des Realsozialismus nicht unter den Tisch fallen zu lassen.

H. Johannes Wallmann - Berlin, am 9./31. Oktober 2019

 

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01 s.a. Jürgen Fuchs „Magdalena“ (Rowohlt 1999, S. 409-411) sowie Jürgen-Fuchs-Zyklus, die Sätze 5, 11, 17, 20 (rechts auch als pdf)

02 s.a. integrale-moderne.de

03 s.a. H.Johannes Wallmann „DIE WENDE GING SCHIEF – oder warum Biografie mehr als nur eine persönliche Angelegenheit ist“ (Kadmos 2009, S. 9 ff.); s.a. Susanne & H.Johannes Wallmann „KUNST – EINE TOCHTER DER FREIHEIT – im Vis à vis alter und neuer Totalitarismen“ (Kadmos 2017, S.294/95)

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